11 Sep Das Tal der Süßigkeiten
In Italien, einem Land, dem es an Problemen nicht mangelt, gehört Sizilien zu den Sorgenkindern. Arbeitslosigkeit, Rezession, Landflucht sind die bekannten Schlagwörter. Doch in Modica, einem Städtchen im Süden der Insel, gedeiht die Süßwaren-Industrie. Die traditionellen Schokoladenrezepte sind zu einem Schatz für die ganze Region geworden.
Die Altstadt von Modica hat ein ganz eigenes Tempo. Eile ist hier ein schlechter Berater, denn die hellen Häuser liegen an den Hängen zweier tief eingekerbter Täler. Die Wege, die die Altstadt durchziehen, sind steil, und im Sommer wird es sehr, sehr heiß. Also lässt man es bedächtig angehen. Ein Wochentag fühlt sich hier so an wie andernorts der Sonntag. An einem dieser Tage sitzen drei Männer zufrieden auf einer Bank in einem schattigen Innenhof am Corso Umberto, der Hauptstraße von Modica.
Der Hof gehört zur Dolceria Bonajuto, der ältesten Schokoladenmanufaktur Siziliens. In der sechsten Generation werden hier Süßigkeiten produziert: Aranciate (Orangenzesten mit Honig), Torrone (Türkischer Honig), Marzapane und natürlich die weltberühmte Cioccolato Modicano, Schokolade aus Modica. Sie ist die eigenwillige Urgroßmutter von Milka, Lindt und Co, körnig, ohne den feinen Schmelz, dafür mit einem geschmacklichen Reichtum, der in seiner Vielfalt und Tiefe einem edlen Wein in nichts nachsteht. Sie schmeckt nussig und nach Blüten, nach Holz, Vanille, Tabak oder Pergament. Die drei Männer auf der Bank sind Franco Ruta, Besitzer der Dolceria, sein Sohn Pierpaolo und der ehemalige Angestellte Giovanni Lasconi. Zur Zeit des 71-Jährigen wurden die Kakaobohnen noch auf der „Valata ra Ciucculatti“, einem gewölbten Stein, von Hand zerrieben. Schon seit 1996 ist Lasconi im Ruhestand, doch er verbringt seine Nachmittage noch immer hier auf der Bank vor dem Geschäft, wo aus den Produktionsräumen die bezaubernden Düfte herüber wehen.
Franco Ruta nutzt die Gelegenheit, um ein wenig von der Geschichte der Schokolade zu berichten: „Ursprünglich war Schokolade keine Süßigkeit. Als die Spanier im 16. Jahrhundert die ersten Kakaobohnen aus Südamerika nach Sizilien verschifften, schätzte man sie vor allem, weil sie nahrhaft und haltbar ist.“ Ihre ursprüngliche Verwendung als Proviant für Jäger, Schäfer und Soldaten erkennt man noch, wenn man ’Mpanatigghi probiert. Der Name leitet sich von den spanischen „Empanadas“ ab. Die Füllung von ’Mpanatigghi besteht hingegen aus fein geriebenem Fleisch und Kakaomehl, einer eigenwilligen, aber sehr nahrhaften Mischung. Als Franco Ruta im Jahr 1992 den Laden von seinem Vater übernahm, gab es in Modica nur noch zwei andere Manufakturen. Das Geschäft lief schleppend. Doch Ruta entschied sich für die Tradition, gab seinen Beruf als Laborant auf und widmete sich fortan den Kakaobohnen. Den ersten Boom erlebte das Unternehmen, als im Jahr 2000 der Film Chocolat in die Kinos kam. Darin verzauberte Juliette Binoche mit der Magie der Schokolade ein Dorf in Frankreich und brachte den Menschen Liebe und Lebensfreude. Der Funke sprang über, und die Zuschauer interessierten sich plötzlich für die Seele dieser Süßigkeit. Bei den Genusshandwerkern aus Modica wurden sie fündig. Die knorrigen Eigenheiten der lokalen Spezialität wurden zu einem Verkaufsargument. Liebhaber aus aller Welt fanden sich ein, um Cioccolato Modicano zu kosten. Per Versand gehen die Spezialitäten heute in europäische Länder, in die USA und bis nach Japan. Modica erlebte einen Aufschwung. Gab es in den 90ern nur noch drei Schokoladenhersteller, sind es heute über 40 größere und kleinere Manufakturen. Viele ihrer Besitzer haben einst in der Dolceria Bonajuto gelernt. Die jungen Leute müssen das Städtchen nicht mehr verlassen, um Arbeit zu finden. Stattdessen kommen Menschen von außerhalb, um hier zu arbeiten.
Inzwischen geht das Geschäft langsam auf den 40-jährigen Pierpaolo über. Er ist im Laden aufgewachsen und kennt sich aus mit Mandelmilch, Fendant und Marzipan. Die Gegend um Modica ist zu einer Region für Genießer geworden. In der näheren Umgebung gibt es vier Restaurants, die einen oder mehrere Michelin-Sterne tragen. Und auch in den einfacheren Osterias wird auf höchstem Niveau gekocht. Die Liebe zum Genuss hat den Menschen Rückenwind gegeben, und die Schokolade aus der Dolceria Bonajuto hat ihren Teil dazu beigetragen.
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