10 Mai mamma artusi
Italienern ist ihre Küche heilig. Ein Leben ohne ihre Spezialitäten wäre für sie keines. Aber Hand aufs Herz könnten wir uns vorstellen ohne Pizza, Pasta & Co. zu leben? Sicherlich nicht, denn die mediterrane Küche ist fester Bestandteil unseres Speisezettels geworden. Nicht nur, dass uns die leichte italienische Küche von Ernährungsberatern und Ärzten empfohlen wird, wir haben durch sie gelernt, dass „Gesund“ und „Lecker“ keine Gegensätze auf dem Teller sein müssen. Dafür haben wir die italienische Küche heimlich auf einen Thron gehoben der ihr sicherlich gebührt.
Denken wir einfach nur an ein frisch zubereitetes Pesto. Ein Bund duftendes Basilikum, das Aroma frisch in der Pfanne gerösteter Pinienkerne, eine Prise feines Meersalz, frisch gemahlener Pfeffer und bestes Olivenöl aus der Toskana. Ein solches Pesto im Mörser mit frische geriebenem Parmigiano Reggiano zerstoßen belebt alle Sinne und lässt uns beim Genuss der damit zubereiteten Pasta an Urlaub denken und Gott für solch einfachen Glückserlebnisse danken. Schon dieses kleine Beispiel veranschaulicht unsere Liebe zur italienischen Küche und gibt Auskunft darüber, weshalb die Italiener im Glauben unverdrossen sind, denn ihre Küche ist ihnen heilig. Und in der Tat: Die Küche Italiens zeigt, wie einfach man ein grandioses Essen zubereiten kann, wenn man Wert auf gute Produkte und ihr Zusammenspiel legt. Natürlich haben wir Deutsche in Punkto erstklassige Produkte ein kleines Manko, von dem wir verschämt ein Lied singen können. Denn selbstverständlich halten wir viel von guten Lebensmitteln, aber im Zweifelsfall schrecken wir davor zurück, für eine kleine Flasche Aceto Balsamico Tradizionale mehr Geld bezahlen zu müssen, als für die gute Flasche Barolo Gattera, die wir für das geplante Abendessen in den Einkaufswagen gelegt haben. Da stellen wir dann lieber die Flasche Aceto zurück ins Regal und bedienen uns im Supermarkt am mit Zuckercouleur gefärbten Essig mit ähnlich klingendem Namen.
Porca miseria! Wie kann man sich nur so sehr an Glaubenssätzen vergehen? Schon hätten wir Ärger mit unseren italienischen Tischnachbarn, wenn sie denn überhaupt mit uns über Essen reden würden. In der Tat kann man sehr schnell feststellen, dass man inmitten einer Gruppe gastfreundlicher Italiener unmittelbar vereinsamt, wenn die Diskussion auf das Essen kommt. Da gibt es auf einmal nur noch Landsleute, die zur Diskussion zugelassen sind, alle anderen Personen am Tisch verwandeln sich scheinbar in Luft. In solchen Momenten merkt man unwillkürlich, dass den Italienern Essen nicht nur wichtig oder heilig ist, es ist für sie ein alternativloses Lebenselixier. Dies hat einen Grund, der so verblüffend einfach und zugleich so einfach grandios ist, wie die Zubereitung von Spaghetti alle Vongole: Die Italiener sind erst durch ihr Essen zu Italienern geworden. Erst die Kenntnis über die Zubereitung verschiedener regionaler Spezialitäten hat aus dem Völkergemisch die Nation Italien und damit die Italiener entstehen lassen, wie wir sie heute kennen. Als Außenstehender kann man den Beweis direkt in einer kulinarischen Diskussionsrunde antreten. Auch wenn man in der Diskussion über Essen sofort aus dem Kreis der Menschen die überhaupt reden dürfen ausgeschlossen worden ist, kann man doch mit einem allseits akzeptierten Code urplötzlich selbst als Außenstehender wieder akzeptiert werden. Lässt man in einer solch hitzig geführten Diskussion die Worte fallen: „Aber Artusi hat zu diesem Problem gesagt…“ wird man von den Italienern auf einmal mit anderen Augen angesehen. Plötzlich ist man ein Anderer, ein Ausländer, der Artusi kennt, da hat man von Essen ja vielleicht doch etwas Ahnung. Das Wort „Artusi“ fungiert hierbei als Zauberschlüssel und das nicht ohne Grund.
Der große Artusi gründet die Nation
Wie Deutschland ist Italien ein Land, das erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Nation wurde. Doch auch nachdem der Italienische König Victor Emanuel II. zum „König von Italien“ gekrönt worden war und wenig später Rom zur Hauptstadt Italiens avancierte, fehlte den Bürgern neben dem ideellen Gebilde der Nation ein einigendes Bindeglied. Zu sehr verstand man sich als Bürger seiner Region, sprach den gebräuchlichen Dialekt und kochte sein eigenes Süppchen.
Diese Diskrepanz erfasste der Seidenhändler Pellegrino Artusi auf seinen zahlreichen Reisen durch Italien. Er begriff, dass nach der Einheit der Nation nun auch die Sprache der Italiener vereinheitlicht werden sollte, um auf diese Weise das Sprachenproblem zu lösen. Da Artusi jedoch nicht nur Geschäftsmann, sondern ebenfalls ein leidenschaftlicher Gourmet war, sammelte er die Rezepte der unterschiedlichen Regionen Italiens und versammelte sie in seinem grundlegenden Buch:La scienza in cucina e l´arte di mangiar bene – „Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens“. Schon der Titel macht deutlich, dass es Artusi dabei um mehr ging, als eine bloße Sammlung von Rezepten. Die im Titel genannte Wissenschaft übte der Autor selbst aus, denn er musste aus einer Vielzahl regional leicht variierender Zubereitungsarten und Namen für ein ähnliches Gericht einen einheitlichen Standard in Benennung und Rezeptur setzen. Dies erreichte Artusi dadurch, dass er die Sprache im wahrsten Sinne beim Wort nahm und zu jedem Gericht nicht nur die Anleitung zur Zubereitung lieferte, sondern stets auch eine locker erzählte Geschichte dazu lieferte, mit denen er gezielt die Hausfrau und Köchin ansprach. So konnte Artusi nicht nur das Italienische in die Küchensprache einführen, sondern auch die Vorherrschaft französischer Bezeichnungen im eigenen Lande eindämmen und schenkte Italien und den Italienern ihre eigene Kochsprache.
Als sich Artusi im Alter von 71 Jahren dazu entschloss sein Buch zu veröffentlichen war der Erfolg seines Werkes nicht abzusehen. Kein Verlag wollte das Risiko eines solchen Unterfangens tragen und so publizierte er die erste Auflage in Höhe von 1000 Exemplaren auf eigene Kosten. Doch er hatte den Nerv seiner Zeit getroffen und schon bald avancierte der „Große Artusi“ wie das Buch in Italien genannt wurde zum Standardwerk und keine junge Italienerin konnte heiraten, ohne den Artusi mit in den neu gegründeten Haushalt zu nehmen. Zu seinen Lebzeiten konnte Artusi 35 Auflagen mit 283.000 verkauften Exemplaren verzeichnen. Durch die von ihm geschaffenen Standards und seine Sprache entwickelte sich das Buch gleichsam zu einem kulinarischen Gründungsakt der Nation. Kein Wunder also, dass im Jahr 2011, dem 150. Jahrestag der Gründung der Italienischen Nation, zugleich ein Artusi-Jahr gefeiert wurde.
Casa Artusi
Die „Casa Artusi“ in Forlimpopoli hat sich ganz dem Erbe Pellegrino Artusis verschrieben. Hier gibt es nicht nur eine auf dem Nachlass Artusis aufbauende Bibliothek mit insgesamt über 40.000 Bänden über die Kochkunst und die Kulturen des Essens, sondern gleichfalls ein Restaurant und eine Osteria, in denen man von Artusi aufgezeichneten Gerichte probieren kann. Doch viel entscheidender ist die Tatsache, das hier eine Vielzahl an Kochkursen angeboten werden, um das Erbe Artusis zu vermitteln. Denn ganz im Sinne Artusis wird die Praxis des Kochens als der beste Lehrmeister angesehen, um Wissen zu vermitteln. In der Casa Artusi werden auf diese Weise die Rezepte Artusis leicht modernisiert, ohne dass sie ihren Charakter einbüßen würden. Selbstverständlich wird die Pasta selbst zubereitet, aber das ist nur der Beginn eines Kochkurses.
Zugleich werden stets namhafte Köche des Landes als Dozenten eingeladen, damit die Besucher ein Bild der modernen italienischen Hausmannskost vermittelt bekommen. Dabei wird viel Wert auf die regionale und saisonale Verwendung erstklassiger Produkte gelegt. Und selbstverständlich wird der Klassiker ebenso im Hauseigenen Buchladen zum Verkauf angeboten wie neu kreierte Kochbücher.
Die Casa Artusi entfaltet somit auf ihren 2.800 Quadratmetern im monumentalen Kirchenkomplex der Chiesa die Servi in Forlimpopoli nicht nur ein Zentrum der gastronomischen Kultur, sondern auch ein Zentrum der Kochkunst Italiens in dem es natürlich lebhaft zu geht. Denn seit Pellegrino Artusi ist es ja kein Wunder, dass die Italiener beim Essen mit Leidenschaft zu Werke gehen, sind sie doch erst durch ihr Essen Italiener geworden.
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